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Wenn du regelmäßig meinen Blog liest, bist du wahrscheinlich ein Mensch, der anderen gerne hilft. Ein Mensch mit einem großen Herz, der die Welt mit seinem Tun ein bisschen besser machen möchte. Deshalb greifst du anderen unter die Arme, wo du nur kannst:

Deine Schwester hat sich mal wieder mit ihren monatlichen Ausgaben übernommen? Natürlich hüpfst du mit deinen Ersparnissen in ihren finanziellen Engpass. Deine Mutter ruft samstags an, weil ihr Rasen dringend gemäht werden müsste? Na gut, dann fällt der geplante Brunch mit der Freundin halt flach. Deine Kinder klingeln dich nachts aus dem Bett, weil sie den Bus verpasst haben, um von der Party heim zu kommen? Ist doch klar, dass du selbst im Pyjama als Chauffeur sofort startklar bist.

Schon im Kindergarten lernen wir die Geschichte von Sankt Martin, der bei eisiger Kälte seinen Mantel mit einem Bettler teilte. Wir lernen, dass Helfen ein Akt der Nächstenliebe ist und einen guten Menschen ausmacht. Und das ist auch richtig so. Anderen zu helfen ist etwas Wunderbares und soooooowas von wichtig. Und es hinterlässt auch in uns ein angenehmes Gefühl der Zufriedenheit.

Aber ob du es glaubst oder nicht: Unser Helfen kann auch grausam sein.

Warum Helfen grausam sein kann

Dazu möchte ich dir eine Geschichte erzählen, die ich kürzlich auf einem Hypnoseseminar gehört habe. Leider konnte ich nicht herausfinden, von wem diese Geschichte ursprünglich stammt. Aber sie ist zu schön, zu weise, um sie nicht mit dir zu teilen:

Ein Mann fand einen Schmetterlingskokon und nahm ihn mit nach Hause, um den Schmetterling schlüpfen zu sehen. Eines Tages wurde eine kleine Öffnung sichtbar. Während mehrerer Stunden kämpfte der Schmetterling, doch es schien, als könne er seinen Körper nicht über einen bestimmten Punkt hinaus bringen. Da glaubte der Mann, dass etwas nicht richtig sei, und nahm eine Schere, um den Rest des Kokons aufzuschneiden. Der Schmetterling schlüpfte mit Leichtigkeit heraus: ein großer, aufgedunsener Körper mit kleinen, schrumpeligen Flügeln.

Der Mann dachte, dass sich die Flügel in ein paar Stunden zu ihrer natürlichen Schönheit entfalten würden, doch es geschah nicht. Anstatt sich in ein Geschöpf zu verwandeln, das frei war zu fliegen, verbrachte der Schmetterling sein Leben damit, einen geschwollenen Körper und aufgedunsene Flügel mit sich herumzuschleppen.

Der enge Kokon und der Kampf, der nötig ist, um durch die enge Öffnung hindurch zu schlüpfen, sind der Weg der Natur, Flüssigkeit vom Körper in die Flügel zu zwingen. Der „gnadenvolle“ Schnitt war also in Wirklichkeit grausam. Manchmal ist ein Kampf genau das, was wir brauchen.

Als ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte, fielen mir sofort mehrere Menschen ein, die statt meiner Hilfe eigentlich einen Kampf gebraucht hätten. Mir fielen auch viele Situationen ein, in denen ich selbst einen Kampf gebraucht hätte statt einer helfenden Hand, die mir die Arbeit abnimmt. Vielleicht geht es dir genauso!?

Was passiert, wenn wir zu viel helfen?

In der Psychologie gibt es das Wort „Selbstwirksamkeit“. Selbstwirksamkeit ist die Überzeugung eines Menschen, „auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können“ (Stangl, 2019). Wenn wir uns anstrengen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und infolgedessen ein Erfolgserlebnis haben, wird unsere Selbstwirksamkeit gestärkt. Wir machen die Erfahrung, dass wir durch unsere Anstrengung und Leistung selbst etwas bewirken und verändern können. Wir lernen, dass unser Handeln von Bedeutung ist!

Wenn wir den Schmetterlingen in unserem Leben allerdings ständig die Arbeit, den Kampf abnehmen, können sie keine Selbstwirksamkeit entwickeln. Ein Jugendlicher zum Beispiel, der von seinen Eltern alle Wünsche ohne Gegenleistung sofort erfüllt bekommt, dem man alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumt, kann nicht die Erfahrung machen, dass er durch seine Arbeit etwas bewirkt. Er bekommt überhaupt nicht die Möglichkeit, die volle Kraft in seine Flügel zu pumpen.

Das kann tatsächlich grausame Folgen haben. Denn das Erleben von Selbstwirksamkeit ist für das seelische Wohlbefinden von Mensch und Tier von großer Bedeutung. In Experimenten konnte man nachweisen, dass Hunde mit depressivem Verhalten reagieren, wenn sie merken, dass ihre Aktionen wirkungslos sind. Ähnliche Reaktionen stellte man in Experimenten mit Menschen fest. Zu viel Helfen, zu viel Verwöhnung kann also sogar die Entwicklung von Depressionen begünstigen.

Geben wir den Menschen, die wir lieben, also die Möglichkeit, fliegen zu lernen! Auch wenn das für sie ein langer, schweißtreibender Prozess sein kann und es auch für uns manchmal schmerzvoll ist, dabei zuzuschauen. In solchen Momenten kannst du dich aber daran erinnern, dass ein Kampf manchmal genau das ist, was wir brauchen, um frei fliegen zu können. Und vielleicht reicht es, wenn wir einfach nur am anderen Ende der engen Öffnung stehen und den Schmetterling wissen lassen: Du schaffst das! Ich glaube an dich!

Und schon kommt unsere neue Challenge! 🙂

Challenge #18:
Lass uns gemeinsam in den nächsten Wochen etwas achtsamer sein: Wo ist unsere Hilfe wirklich nötig? Und wo schneiden wir vielleicht gerade nur wieder einen Kokon auf? In welchen Lebensbereichen haben wir vielleicht selbst noch verkümmerte Flügel und könnten uns ruhig etwas mehr zutrauen?

Ich freue mich so sehr, wenn du mir von deinen Erfahrungen, Erlebnissen und Erkenntnissen berichtest – in den Kommentaren, per Mail, bei Facebook oder Instagram!

Danke, dass du die Welt besonders machst!!!

Deine

Stephanie

Quellen:
Stangl, W. (2019). Stichwort: ‚Selbstwirksamkeit‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. URL: https://lexikon.stangl.eu/1535/selbstwirksamkeit-selbstwirksamkeitserwartung/ (2019-08-10)